Ergänzend zu meinem kürzlich am Blog veröffentlichten Artikel über stärkende Erziehungsmaßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch möchte ich euch heute weitere Informationen darüber geben. Was und wen braucht es neben den Eltern sonst noch, um sexuellen Missbrauch gegen Kinder und Jugendliche vorzubeugen? Hierfür habe ich ein spannendes Interview mit Dipl. Psychologin Christin Pontius geführt. Sie berät und begleitet Kindertagesstätten, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Krankenhäuser, Kirchengemeinden, Vereine und Verbände beim Erstellen von Schutzkonzepten gegen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Im Blog gewährt sie Einblicke in ihre Arbeit und verrät Strategien gegen Machtmissbrauch, die dabei helfen, sichere Räume für Kinder zu schaffen.
Was gilt als Gewalt gegen Kinder und wo beginnt Missbrauch?
Das deutsche Strafgesetzbuch leistet einen wesentlichen Beitrag zur Begriffsklärung. Es stellt sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 Jahren (sowie in bestimmten Fällen an Jugendlichen unter 16 bzw. 18 Jahren) unter Strafe. Der 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches (§§ 174 – 184c) definiert sexuelle Handlungen an Kindern als Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Bereits der Versuch eines Sexualkontaktes mit einem Kind ist strafbar.
Per Gesetz wird sexualisierte Gewalt im engeren Sinne definiert als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung (in Anlehnung an §177, Abs. 1, StGB). Im weiteren Sinne bedeutet sexualisierte Gewalt Machtausübung, Unterwerfung und Demütigung mit dem Mittel der Sexualität. Die Gewaltform umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind vorgenommen wird – und damit eine Verletzung dessen Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung bedeutet. Dazu gehören auch geschlechtsbezogene oder sexualisierende Übergriffe durch Worte, Gesten, Bilder oder Handlungen mit oder ohne direkten Körperkontakt.
Missbrauch in Kitas, Schulen, Vereinen, Kirchengemeinden – gibt’s das überhaupt?
Sexualisierte Gewalt und Missbrauch sind leider keine Seltenheit. Laut WHO-Statistik macht etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge mindestens einmal vor dem 18.Lebensjahr eine sexuelle Gewalterfahrung, die der Gesetzgeber als sexuellen Missbrauch, exhibitonistische Handlung, Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung unter Strafe stellt. Diese Kinder und Jugendlichen sind im Schulalltag, im Kindergarten, in der Nachmittagsbetreuung, im Freizeitzentrum und gehen mit Grippe zum Arzt. Trotzdem wird ihre Betroffenheit häufig nicht erkannt.
Durch die Aufdeckungen der letzten Jahre ist bekannt geworden, dass es auch in Institutionen und Einrichtungen zu Grenzverletzungen, pädagogischem Fehlverhalten, zu Übergriffen, zu Missbrauch durch MitarbeiterInnen und Engagierte kommen kann. Überall, wo sich Kinder aufhalten und betreut werden, kann es Erwachsene geben, die ihre Machtposition gegenüber den Kindern und Jugendlichen ausnutzen.
Wer sind die Täterinnen und Täter?
Die TäterInnen stammen zu 90% aus dem Familien- und Bekanntenkreis des Kindes. Sie kommen aus allen sozialen Schichten unserer Gesellschaft, und sind unabhängig von Bildung, Klasse, Rasse und Position. Die Täter sind nicht nur Männer, sondern es gibt auch übergriffige und gewalttätige Frauen. Die Täterinnen und Täter nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition sowie die Liebe und Abhängigkeit der Kinder aus, um ihre eigenen (sexuellen, emotionalen, sozialen) Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen und diese zu Kooperation und Geheimhaltung zu veranlassen.
Täter/-innen suchen gezielt Situationen, in denen sie auf leichte und unkomplizierte Weise (körperliche) Kontakte mit Kindern und Jugendlichen eingehen und aufbauen können, daher besteht die Gefahr, dass sich TäterInnen genau mit dieser Intention in Vereine, Freizeiteinrichtungen etc. begeben.
Woran erkennt man, dass ein Kind sexuell missbraucht worden ist?
Eindeutige Symptome dafür, dass ein Kind sexuell missbraucht worden ist, gibt es nicht. Häufig zu beobachten sind im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch aber eine plötzliche, deutliche Wesensveränderung, Schlafstörungen, anhaltende Ängste, altersunangemessenes sexualisiertes Verhalten oder sozialer Rückzug. Jedoch können diese Anzeichen auch auf andere Belastungen von Kindern oder Jugendlichen, zum Beispiel im Familiensystem oder im sozialen Umfeld hinweisen. Dies bedeutet: Es gibt keine typischen Symptome nach (sexualisierter) Gewalterfahrung. Allerdings ist es jede Verhaltensänderung wert, hinterfragt zu werden. Das Umfeld sollte daher mit Verständnis reagieren und versuchen, die Sprache der Betroffenen zu verstehen. Es sollte bemüht sein, Ursachen für auffällige Verhaltensänderungen durch einfühlsame Fragen zu erforschen. Sexualisierte Gewalterfahrung sollte dabei als eine von vielen Möglichkeiten in die Überlegungen mit einbezogen werden.
Wie kann Missbrauchsprävention in Kitas, Schulen, Vereinen, Kirchengemeinden aussehen?
Anhaltspunkte dazu liefern die Leitlinien zur Prävention und Intervention sowie zur langfristigen Aufarbeitung sowie zur Initiierung von Veränderungen nach sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die 2011 auf Bundesebene vom Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch herausgegeben worden.
Zum Kreis der Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen zählen zur erfolgreichen Abwehr potentieller Übergriffe folgende Präventionsanstrengungen:
- Erarbeitung eines Schutzkonzeptes: Schutzkonzepte gegen Missbrauch sind umfassende Programme zur Prävention und zur Krisenintervention. Sie helfen, sichere Räume für Kinder zu schaffen, sie signalisieren den Kindern und Jugendlichen „Hier kannst du sprechen“ und verdeutlichen den TäterInnen „Hier bei uns nicht!“. Für die Ausarbeitung eines solchen ist zuallererst die Auseinandersetzung mit Gewalt an Kindern und die Öffnung dafür, dass es Erwachsene gibt, die gezielt und strategisch institutionelle Strukturen nutzen, um sich Kindern zu nähern und sie zu missbrauchen, erforderlich. Aus der systematischen Bearbeitung dieser Tatsache entstehen schließlich präventive Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Grenzverletzungen, pädagogischem Fehlverhalten und Gewalt durch MitarbeiterInnen. Dazu gehört beispielsweise die Entwicklung und Umsetzung eines Verhaltenskodexes mit verbindlichen Regeln für alle haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen; die Entwicklung und Verankerung eines verbindlichen, niederschwelligen Beschwerdesystems, das unkompliziert Hinweise auf mögliche Gefährdungen oder Missstände ermöglicht. Auch ein Notfallplan gehört dazu, der das professionelle Vorgehen festlegt, wenn es Hinweise auf einen Machtmissbrauch gibt. Ein institutionelles Schutzkonzept greift erst wirklich, wenn alle Hierarchieebenen und Mitarbeitergruppen es gemeinsam mit den NutzerInnen der Einrichtung erarbeiten und es mittragen. Weitere nützliche Empfehlungen sind im Handbuch Schutzkonzepte vom UBSKM, 2013 zu finden.
- Stärkung von Kindern und Jugendlichen durch Selbstbestimmung, Respekt und Toleranz: Sexualisierter Gewalt vorzubeugen bedeutet, nicht nur Gefahren abzuwehren, sondern auch Schutz durch Stärkung zu geben. Ziel einer sinnvollen Präventionsarbeit ist es, das Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Gefühle zu stärken. Grundvoraussetzung dafür, dass Mädchen und Jungen ihre eigene Wahrnehmung verbessern und ihre Lebensfreude erhöhen, ist eine Erziehungshaltung, die auf Selbstbestimmung zielt. Dazu gehört auch das Schaffen einer Atmosphäre gegenseitigen Respektes und der Toleranz, in der die Bedürfnisse und Grenzen des Gegenübers gewahrt werden. Besonders geeignet, die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen zu stärken und sie zu selbstbewussten und gefestigten Menschen zu formen, sind Aktivitäten, bei denen eigenes Mitgestalten und Mitentscheiden gefördert und unterstützt wird und deren Implementation in den Einrichtungsalltag. Gegenseitiger Respekt und Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Lebensentwürfen oder Kulturen sind Werte, die in den Einrichtungen und Organisationen erlebt und vermittelt werden können. Dieses konsequent zu tun und die Werte bei Verstoß zu verteidigen und überzeugend für sie einzutreten, ist ein Auftrag an alle, die sich engagieren, egal ob als Erzieher/-in, Lehrer/-in, Trainer/-in, Betreuer/-in, Übungsleiter/-in oder in ehren- und hauptamtlichen Funktionen der Organisationen und Einrichtungen.
- Qualifizierung und Fortbildung von Fachpersonal für die Prävention sexualisierter Gewalt: Damit in den Organisationen und Institutionen handlungskompetent und -sicher gearbeitet werden kann, braucht es ein umfassendes Angebot an Sachinformationen über Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen von sexueller Gewalt und Kindesmissbrauch sowie deren persönlicher Reflexion vor dem Hintergrund der eigenen Erziehungsgeschichte. Es empfiehlt sich zudem, zu prüfen, ob es möglich ist, eine Vertrauensperson in der Einrichtung zu benennen, die für das Thema verantwortlich ist, und dieses nachhaltig in der Einrichtung implementiert. Diese Person sollte in der Organisation folgende Aufgaben wahrnehmen: 1. Verfahren bei Verdachtsfällen festlegen, 2. Kontakt zu externer Beratung suchen und bedarfsweise herstellen, 3. Fallclearing bei Verdachtsfällen durch eine entsprechend ausgebildete Person sicherstellen und 4. geeignete Schulungen und Informationen für die MitarbeiterInnen organisieren.
Was ist im Ernstfall zu tun?
Die Konfrontation mit einem Fall sexualisierter Gewalt löst zwangsläufig die unterschiedlichsten Emotionen aus: Wut, Betroffenheit, Angst, Ohnmacht oder auch Hilflosigkeit. Viele fühlen sich in solchen Situationen wie gelähmt und fragen sich: „Wie kann ich helfen?“
Jede Organisation und Einrichtung sollte gut auf den „Fall der Fälle“ vorbereitet sein und bereits im Vorfeld das konkrete Vorgehen abgesprochen haben. Die Verantwortlichen in den Institutionen sollten sich ihrer Garantenpflicht bewusst sein und diese wahrnehmen. Das heißt, wird ein Vorfall bekannt, besteht immer eine Handlungspflicht! Allerdings besteht keine Anzeigepflicht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden.
Bei einem Missbrauchsfall ist zu beachten:
- Schenke dem betroffenen Kind oder Jugendlichen unbedingt deinen Glauben und lobe es für sein Vertrauen, sich dir gegenüber zu öffnen
- Bewahre Ruhe!
- Dokumentiere die Aussagen des Betroffenen möglichst wortgetreu
- Hole Hilfe, zum Beispiel beim deutschlandweiten Hilfetelefon Sexueller Kindesmissbrauch (kostenlos und anonym)
- Die Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit ist Sache der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Auf keinen Fall sollte man den mutmaßlichen Täter/-in selbst mit den Vorwürfen konfrontieren oder eigenständig ermitteln.
- Nachfragen im Kollegenkreis schaffen Unsicherheiten und beliefern die „Gerüchteküche“.
- Handlungsschritte sollten nur in Absprache mit den Betroffenen vereinbart werden.
- Die Einschaltung der Ermittlungsbehörden bedingt immer einen „Strafverfolgungszwang“, d.h. eine Anzeige kann nicht zurück genommen werden. Daher sollte dieser Schritt nur in Absprache mit den Betroffenen, der Fachberatungsstelle und ggf. den gesetzlichen Vertretern getroffen werden (BMJV, 2016).
Wo finden Organisationen, Kirchgemeinden und Vereine Unterstützung beim Erstellen eines Schutzkonzeptes zur Prävention und Intervention von Missbrauch?
Die Expertin:
Christin Pontius ist Dipl. Psychologin, Kinderschutzmitarbeiterin und freiberufliche Beraterin und Referentin für Organisationen. Sie berät und begleitet seit vielen Jahren Kinder und Jugendliche, die Gewalt erlebt haben. Sie engagiert sich dafür, dass Erwachsene Verantwortung übernehmen, sich dem Thema Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt stellen und genau hinschauen – um Kinder zu schützen. Im Rahmen der Erstellung eines institutionellen Schutzkonzeptes bildet sie die Fachkräfte und die für Kinder Engagierte weiter, und unterstützt die Einrichtungen dabei, eine Organisationskultur zu entwickeln, die einen grenzachtenden und wertschätzenden Umgang untereinander und mit den Kindern unterstützt. Außerdem wird ein Krisenplan entwickelt, der den Engagierten Handlungssicherheit gibt, wenn es zu einem Verdachtsfall kommt.
Eine Kontaktaufnahme mit Christin Pontius ist möglich über:
www.christinpontius.de
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