Natur tut Kindern gut. Nach einem Tag in der Natur ist jedes Kind ruhiger und erholter. Doch im Matsch rumsauen, Staudämme bauen, in Erdlöcher klettern, nach vergrabenen „Schätzen“ buddeln, im Wald nach „wilden Tieren“ und Gespenstern suchen, erleben viele Kinder heute immer seltener. Warum Natur für Kinder jedoch wichtig ist und warum „wildes“ Denken, ungezügeltes Spielen und „freies“ Lernen für ein erfülltes Leben im späteren Erwachsenenalter essentiell sind, verrät Barbara Maria Lorenzoni.
Ein Interview mit Barbara Maria Lorenzoni
Welche Rolle spielt die Natur für Kinder?
Die Natur stellt einen idealen Entwicklungs- und Erfahrungsraum dar. Die Natur bietet ganzheitliche Sinnesreize. Die Kinder bestimmen selbst, womit sie sich beschäftigen. Somit bestimmen sie auch, auf welche Reize sie sich einlassen. Und anders als vorgefertigte Umgebungen oder Materialien hat die Natur unendlich viele Facetten und setzt der kindlichen Fantasie keine Grenzen.
Was lernen Kinder in der Natur und wie wirkt sich der Kontakt mit ihr langfristig aus?
Natur tut Kindern gut. Kinder brauchen auch die Natur! Sie brauchen echte Naturerlebnisse, dass draußen Spielen. Es ist unverzichtbar, um seine seelischen, körperlichen und geistigen Potentiale so entfalten zu können, dass man sich zu einem erfüllten Menschen entwickeln kann.
Verschiedenste Studien haben gezeigt, dass Kinder viel entspannter und kreativer sind, wenn sie regelmäßig mit ihrer Familie in den Wald spazieren gehen oder alleine ungezügelt und vor allem unkontrolliert durch die Erwachsenen im Freien spielen können. Die Nähe zur Natur ist relevant für die Entwicklung emotionaler Bindungsfähigkeit, Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude. Durch den Umgang in und mit der Natur öffnen sich die Sinne und schult sich der Verstand. Anders als beispielsweise beim Fernsehen oder ähnlichen Aktivitäten, die den Blick oft auf einen Bildschirm konzentrieren, werden in der Natur alle Sinne angesprochen und sensibilisiert. Die Natur baut den Kindern einen ethischen Kompass ein, denn sie lehrt über das Leben, das Sterben, das Gedeihen, das Vergehen, über Zusammenhalt und entwickelt ein kollektives Verantwortungsbewusstsein.
Studien zeigten auch, dass Kinder, die leichteren Zugang zur Natur haben, tendenziell weniger Stress empfinden. Sie sind weniger von Ängstlichkeit, Depression oder Störungen des Sozialverhaltens betroffen. Darüber hinaus können Trauerprozesse besser überstanden und Symptome, die durch traumatische Ereignisse ausgelöst wurden, gemildert werden.
Sind unsere Kinder zu wenig draußen?
Verschiedene Studien dokumentieren eine zunehmende Naturentfremdung der Kinder und Jugendlichen. Kindheit heute bedeutet vielfach: im Zimmer vor dem Computer hocken, ballern, klicken und surfen. Mit Freunden chatten und reden, ohne ihnen gegenüberzusitzen. Die Welt digital zu entdecken, ohne live dabei zu sein. Der Lebensradius vieler Kinder und Jugendlichen hat sich nach Drinnen verlagert. Entdeckungsreisen finden digital statt, Kommunikation aus der Distanz, Konflikte werden Mausklick ausgetragen. R. Louv prägte dafür 2011 den Begriff des „Natur-Defizit-Syndroms“. Kindern mit Natur-Entzug werde die Erfahrung des Lebens, der Lebendigkeit genommen und damit fehle ihnen selbst ein wichtiger Teil zum seelischen Gleichgewicht. Nachmessen lässt sich diese Behauptung natürlich kaum. Signifikant ist jedoch die Zunahme an Essstörungen oder der Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADHS).
Die Natur hat eigene Rahmenbedingungen, die sich nicht simulieren lassen. Kein Fernsehfilm kann ersetzen, was ein Kind beim Klettern erlebt: Augen, Hände und Füße müssen miteinander zusammenarbeiten, um sicheren Tritt zu fassen an der Rinde des Baumstamms, ein Ausrutschen verwandelt Übermut in Vorsicht, das Einschätzen der Tragfähigkeit eines Astes lehrt planendes Handeln. Seine körperlichen Grenzen erfährt das Kind hier ebenso wie das überwältigende Gefühl, ein Ziel erreichen zu können. All diese Erfahrungen nisten sich ein in der Psyche des Kindes und formen seine Persönlichkeit.
Kannst du Tipps geben, wie Eltern ihren Kindern trotz Zeitnot und fehlendem Wald oder eigenem Garten in der Nähe des Wohnortes Zugang zur Natur verschaffen können?
Um einem Kind die Natur nahe zu bringen, braucht es gar nicht viel. Genug Raum und Zeit zum Toben unter freiem Himmel sind schon ausreichend. Im Vordergrund sollte das sinnliche Erleben stehen, das heißt, das Kind muss die Möglichkeit haben, sich in der Natur zu bewegen, sich ungebremst umzuschauen und das Umfeld zu erforschen. Je ausgeprägter ein Kind die Natur erleben darf, umso stärker fühlt es sich eingebunden, kennt seine Position und lernt verantwortliches und achtsames Verhalten allem Leben gegenüber – zumindest dann, wenn ihm seine Eltern dieses vorleben. Durch einen „kleinen Stupser“ kann man seine Kinder in Schwung setzen, sodass Kreativität und Begeisterung dann meist ganz von alleine kommen. Folgende Naturspiele können Kinder und Eltern motivieren, draußen zu spielen:
- Natur-Memory: 5- 10 Naturmaterialien (z.B. Steine, Blätter, Rinde) werden auf einem Tuch 10 Sekunden gezeigt. Kinder suchen in nächster Umgebung nach gleichartigen Gegenständen.
- Tiersteckbrief: Eltern lesen 10 Aussagen vor, die das gesuchte Tier umschreiben. Wer es zu wissen glaubt, stupst seine Nase mit dem Finger an; wer seine Meinung ändert, greift mit dem Finger ans Ohrläppchen. Wer es nicht weiß, legt seine Hand auf den Kopf. Am Schluss wird aufgeklärt: „Ich bin ein….“
- Arche Noah: Auf je 2 Karten ist das gleiche Tier zu erkennen. Alle Karten werden gemischt und anschließend verteilt. Jeder zieht eine Karte stellt sein abgebildetes Tier pantomimisch dar. Ziel ist es, seinen Artgenossen zu finden.
- Rückengeschichten: Ein Elternteil sitzt hinter dem Kind, so dass er mit seinen Händen an den Rücken des Kindes heranreicht. Anderer Elternteil erzählt eine Geschichte, die am Rücken vom Kind mit den Händen „erzählt“ wird.
Mit deinen Waldprojekten bietest Du Kindern aus der Region die Möglichkeit, den Lebens(t)raum Wald spielerisch zu entdecken. Was ist das Besondere daran?
Waldluft schnuppern, einander kennenlernen und Schritt für Schritt im Erlebnisraum Wald ankommen: Meine Waldgruppen machen genau das möglich. Ich biete Kindern ab 4 Jahren einen naturpädagogischen Bewegungsraum im Freien. Wir treffen uns einmal wöchentlich ohne die Eltern und spielen und bewegen uns bei jedem Wetter draußen im Wald. Bei unserer Entdeckungsreise durch den Wald geht es vor allem darum, dem freien Spiel der Kinder Raum zu geben. Dadurch können die Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsstand ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen.
Mein Ziel ist es, den Kindern einen natürlichen Bewegungsraum anzubieten, der alle Sinne anspricht und fördert. Mein Hund Pauli und ich begleiten sie im Umgang mit der Natur und allem Lebendigen, damit sie lernen, die Natur zu respektieren und zu schützen. Sie erleben außerdem den Rhythmus der Jahreszeiten hautnah und knüpfen soziale Kontakte. Immer wiederkehrende Elemente (Begrüßungslied, Brotzeit, gemeinsame Aktionen, Abschlusslied), bekannte Wege und Plätze, geben den Kindern Orientierung und Sicherheit. Dabei erleben die Kinder ganz intensiv jede Jahreszeit mit ihren Pflanzen und Tieren. Jede Jahreszeit hat ein anderes Gesicht und bietet neue Erfahrungen – durch Farben, Geräusche, Gerüche etc. Im Wald können die Kinder die Natur mit allen Sinnen aktiv erleben.
Welche Erfahrungen hast Du mit deinen Waldgruppen gemacht?
Viele Kinder sind es nicht gewohnt, im Wald zu sein. Manche haben auch Angst, etwa vor Krabbeltieren. Deswegen ist es ganz wichtig, den Kindern Zeit zu lassen. Ich spreche mit den Kindern darüber, was Pflanzen brauchen oder welchen Nutzen die verschiedenen Insekten haben. Nach und nach wird ihre Wahrnehmung geschult, und sie finden interessante Dinge, mit denen sie sich konzentriert beschäftigen. In der Natur ist für jedes Kind etwas dabei. Das eine Kind gräbt im Boden, ein anderes spielt mit Stöcken oder balanciert auf Baumstämmen, wieder andere finden sich zu Rollenspielen zusammen.
Der Wald mit seinen Naturmaterialien bietet Kindern viel Raum für Kreativität, Phantasie und Eigeninitiative. Beim Klettern, Balancieren und Hüpfen über Wurzeln wird die Motorik angeregt. Kinder erleben die Natur mit allen Sinnen. Sie hören den Specht, ertasten Baumrinden und Zapfen, sie riechen Pilze und Holunderblüten und sehen die herrlichen Farben im Wald. Durch die Bewegung und das Spielen in der Natur wird die Fein-, Grobmotorik, der Gleichgewichtssinn, die Kreativität des Kindes gefördert. Zudem lernen die Kinder zum ersten Mal Zusammenhalt und soziales Miteinander in einer Gruppe kennen.
Die Expertin:
Barbara Maria Lorenzoni ist selbständig in ihrer „Herzwerkstatt“ in Wals bei Salzburg tätig. Sie ist ausgebildete Kindergarten- , Montessori- und Waldpädagogin, Achtsamkeits“lehrerin“ und geht ihren Ureigenen, bewussten Weg der spirituellen Entwicklung. Durch viele verschiedene Ausbildungen und Seminare hat sie ihr Wissen ständig erweitert. Seit 2014 bietet sie auch in ihrer eigenen Praxis hilfesuchenden Menschen psychospirituelle Lebenshilfe an. Während ihrer Tätigkeit als Kindergärtnerin und Therapeutin machte sie immer wieder die Erfahrung, dass Menschen im Laufe des Lebens sehr stark im Denken behaftet sind und dadurch den Kontakt zu ihren Gefühlen verloren haben. Ihre Arbeit liegt vor allem darin, Menschen, Kinder, Jugendliche, Sinnsuchende wieder mit ihrem Herzen zu verbinden und emotionale Blockaden aufzulösen. Neben Einzelsitzungen bietet sie auch Herzenswanderungen und Waldprojekte für Gruppen, Familien, Einzelpersonen von 3 – 99 Jahre an. Bei diesen streift sie durch Wald und Wiesen und erlebt Abenteuer mit allen Sinnen. In den Waldgruppen erhalten die Teilnehmer die Möglichkeit, die Natur und deren Zauber und Geheimnisse sinnlich und mit vollem Herzen zu begegnen.
Sommerferien-Termine
- Wald-Woche: 16.06. – 20.06.2018
- Wald-Woche: 30.07. – 03.08.2018
Buchtipps:
- Wimmer, Norbert: Unsere Natur erforschen und erleben
- Kientz-Deibel, Anke: Mit allen Sinnen
Fotos: aus dem Privatarchiv von Barbara Maria Lorenzoni